Die Collina d’Oro
Schritte durch Hermann Hesses Dörfer im Tessin
Als die ersten Sonnenstrahlen über die Berge hauchen, flammt zunächst der Kirchturm von San Tommaso auf. Golden, natürlich. Dann fliesst das Licht langsam über die Kirche, die wie eine Akropolis auf einer Anhöhe in der letzten Kurve des Strässleins thront, das von diesem magischen Ort nur widerwillig wieder hinunterführt, in immer heftigeren, protestierenden Kehren, in die Niederungen des Alltags, in die Öde des Kommerzes von Grancia. Schliesslich rinnt das Licht herunter, umspült die Häuser von Agra, dem höchstgelegenen Dorf des Hügels, um nach einer weiteren Unendlichkeit die ganze Collina d’Oro in sein Goldbad zu tauchen.
An der Trockenmauer der Höhe ein Fresko, das den heiligen Thomas zeigt mit den Werkzeugen der Freimaurerei. Im Inneren der Kirche, deren erste Spuren im Jahr 1298 dokumentiert sind, die aber wahrscheinlich auf einer alten Kultstätte der Kelten erbaut worden ist, atmet man wie in einem Raum ausserhalb der Zeit. Ein dreispänniges Tonnengewölbe bedeckt das Hauptschiff, Ölgemälde aus dem 17. Jahrhundert zeigen die Ungläubigkeit des Heiligen Thomas. Jesus, als Statue, mit offenem Herzen, wendet dem Betrachter seine Handflächen zu: Christus, altgriechisch „der Gesalbte“, Chrysos, das Gold.
Der Goldhügel. Ausreichend reiche Leute bevölkern den kleinen Landstrich, und man ist immer wieder versucht den Namen der Gegend direkt aus dem Reichtum ihrer Bevölkerung abzuleiten. Doch selbst wenn dem so wäre - Collina d’Oro wäre dann eine weitaus poetischere Umschreibung für den angehäuften Besitz seiner Bewohner als zum Beispiel Zürichs Speckgürtel.
Es muss wohl auch hier regnen, denn die Gärten sind proper grün, die Blumen blühen was das Zeug hält, das Gemüse wächst und im Herbst liegen riesige Kürbisse auf der Erde. Aber vorstellen kann man sich schlechtes Wetter hier kaum, wenn das Licht durch die kleinen Wälder funkelt und sich das Panorama auf dem Weg um den Hügel von Kehre zu Kehre selbst zu übertreffen versucht.
Il “sasso delle parole mai dette”, der “Fels der nie gesagten Worte”, hängt gewagt über dem östlichen Arm des Ceresio. Schwer ist es nicht, hinzukommen, man muss nur den Geheimeingang in den Wald finden. Riesige Laubbäume saugen weit oben das grelle Mittagslicht ein, und was sie davon wieder ausatmen, strömt, angereichert mit Stoffen des Lebens, hinunter zum schattigen Boden, und umfängt den Träumer, der über ihre armdicken Wurzeln voranstolpert.
Hier sitzen des Abends Liebespaare und spinnen Gedanken über das Leben, die Zukunft, die Liebe, und, ja, jedes Wort, hier ausgesprochen, scheint ein Wort zu viel zu sein. Es sind die nie gesagten Worte, die hier zählen, es sind die Gedanken, die Träume, das Wissen um das Leben, um den Lieben. Das zarte Greifen nach der Hand des Anderen, beim Blick über den fast beklemmend romantischen See inmitten seiner ihn umarmenden Berge, mit ihren kleinen Strassen, den Dörfern und Städtchen. Jedes Wort wäre zu viel, ja, nicht einmal Silber wäre es, nur Schweigen ist Gold.
Kommen Sie doch auf einen Kaffee herein! Frau Vallotton öffnet das kleine Eisengatter ihres bezaubernden Gartens, und bittet mich, einzutreten.
Ich war durch Montagnola geschlendert und vor dem wunderbaren Haus aus vergangenen Zeiten stehen geblieben, das sich mit lässig heruntergelassenen Markisen die Mittagssonne aufs Gemäuer schienen liess, und hatte mir ausgemalt, wie die herrschaftlichen Räume in seinem Inneren mit ihren verzierten Holzdecken und Regalen voll alter Bücher sich wohl hinter ihren geschlossenen Augen in wohltuender Dunkelheit ausruhen mochten, während unten im Garten die Natur unter dem grellen Licht explodierte und von ihrer weisshaarigen Dompteuse mit der grossen Schere in Schach gehalten wurde.
Wir waren nicht verabredet, waren uns nie vorher begegnet. Die alte Dame bittet den Herumstreunenden in ihr Heim.
Nives Valloton erzählt mir ihr ganzes langes Leben, von ihren Studien zunächst im Tessin, dann in der deutschen und französischen Schweiz. Von der Begegnung mit ihrem Mann, ihrem gemeinsamen Leben in der deutschen Schweiz, bis er ihr schliesslich mitteilte, dass er das Leben dort nicht mehr aushielt und an einem wirklich schönen Ort bleiben wollte. So kamen sie ins Tessin, zurück in Nives Heimat, lebten zuerst am Fusse der Collina d’Oro, und fanden schliesslich dieses zauberhafte Haus, die Casa Lombard aus dem 18. Jahrhundert. Tatsächlich knacken die Räume leise in wohltuender Schattigkeit, die Holzdecken sind dunkler als vermutet, die Fenster grösser, die Bilder an den Wänden noch schöner. Nives führt mich durch hohe Zimmer, wechselt die Sprachen wie es kommt, zeigt mir die Photoausrüstung ihres längst verstorbenen Mannes, lacht, ja, Gold sei überall hier auf dem Hügel, es umfange einen wie die Luft, man atme es wie das Licht, wohl auch deshalb sei sie so munter.
Sie plaudert aus vergangenen Zeiten und gesteht, dass ihr Gedächtnis etwas nachlasse. Sie trete vor die Sträucher in ihrem verwunschenen Garten, vor die Blumen und Bäume, doch deren Name wolle ihr zuweilen einfach nicht einfallen. Aber dann kommt er plötzlich wieder, beim Lesen oder bei Abstauben der Bilder, sage ich. Sie lacht. Natürlich kommt er wieder. Das fehle ja gerade noch, dass er gar nicht mehr käme! Als sie sich umdreht, um den Zucker zu holen, erhellt sich ihr Gesicht plötzlich und sie ruft erleichert: Forsythia giraldiana! und als ich ihr für den wunderbar kräftigen Kaffee danke, schaut sie mir geradewegs in die Augen und meint lächelnd: Chicco d’Oro.
Die Kirche des Heiligen Abbondio mit den zwei Pinienalleen, die auf sie zueilen, ist so etwas wie das Wahrzeichen der Collina d’Oro. Man sieht sie schon von weitem, und sie gibt dem Besucher dieses wohl schönste Gefühl, das einen bei einer Reise überkommen kann, den Eindruck malerischer, fast ewiger Schönheit und zugleich unverdorbener Autentizität. Ein Sonnentempel in pittoresker, sich nach oben öffnender Landschaft, ein Ort, der jeden auch nur Vorbeieilenden für einen Moment innehalten lässt.
Im Alter von 42 Jahren kam ein „kleiner abgebrannter Literat, ein abgerissener und etwas verdächtiger Fremder“ nach Montagnola, „der von Milch und Reis und Makkaroni lebte, seine alten Anzüge bis zum Ausfransen trug und im Herbst sein Abendessen in Form von Kastanien aus dem Walde heimbrachte.“ Hermann Hesse erreichte 1919, nach einem bewegten und bis dahin über grosse Strecken traurigen Leben, die Collina d’Oro, wo er sich niederliess und bis zu seinem Tode im Jahr 1962 lebte. Es war der Postbote von Montagnola, der ihm 1946 zunächst das Telegramm aus Stockholm brachte mit der Benachrichtigung zum Nobelpreis für Literatur, und in den Tagen und Wochen darauf Schubkarren voller Glückwunschbriefe durch die engen Gassen des Dorfes zur Casa Rossa bugsierte.
„An der Ostwand meines Wohn- und Arbeitszimmers ist eine schmale Balkontüre, die steht vom Mai bis tief in den September offen, und davor hängt ein winziger Steinbalkon, einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Dieser Balkon ist mein bester Besitz. Seinetwegen habe ich mich vor manchen Jahren entschlossen, mich hier niederzulassen, seinetwegen kehre ich nach allen Reisen immer wieder mit einer gewissen Dankbarkeit hierher in meine Tessiner Wohnung zurück.“
Die Tessiner Landschaft, das Licht, die Wälder und die Berge geben Hesse eine Heimat, in der er seine wichtigsten Romane schreibt: Siddharta, Steppenwolf, das Glasperlenspiel, und, nicht zuletzt: Narziss und Goldmund.
Als ich nach meinen tagelangen Streifzügen durch die Collina d’Oro beginne, glücklich über das allerorts hervorscheinende Gold des Hügels, meine Funde niederzuschreiben, erreicht mich eine Nachricht meines Freundes Giuseppe Chiesi vom Tessiner Amt für Kulturgüter: „Pass auf! Der Name Collina d’Oro hat höchstwahrscheinlich nichts mit dem Edelmetall zu tun! Die Bezeichnung „Oro“ ist wohl eine falsche Übersetzung aus dem Tessiner Dialekt, und meint eigentlich „Orlo“, den Rand, den Saum.“
Lange sinne ich über die Chimäre nach, der ich so voller Enthusiasmus auf den Leim gegangen bin. Doch dann begreife ich, dass es die falsche Übersetzung ist, die etwas richtiggestellt hat. Es ist das Wunder der menschlichen Seele, das Wasser in Wein, Chaos in Idee und den Rand in Gold verwandelt.
„Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben in einem Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, …“
Goldmund, aus Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in TRANSHELVETICA N° 7, 2011