Interview mit René Burri

Suchen. Und im Kontakt mit dem Leben bleiben

Markus Zohner
Published in PETRUSKA MAGAZINE

Dieses Interview mit René Burri ist in zwei Treffen entstanden: am 07/08/2010 in Corzoneso und am 11/08/2010 in Locarno. Eine gekürzte Version des Textes ist auf italienisch in der Zeitschrift AZIONE N° 44 vom 02/11/2010 erschienen.

Text und Photos: Markus Zohner

Markus Zohner: Sie haben gerade Ihre Ausstellung BLACK OUT in Corzoneso eröffnet, an einem besonderen, an einem historischen Ort, dem Museum des Archives Roberto Donetta. Was bringt einen der wichtigsten und berühmtesten Photographen der Welt dazu, eine Einladung zu einer Ausstellung buchstäblich hinter den Bergen, am äusseren Rand des kulturellen Lebens anzunehmen?

René Burri: Was heisst schon Rand? Ich habe das Tessin schon vor fünfzig Jahren adoptiert - oder besser: Das Tessin hat mich adoptiert. Schon als ich klein war, bin ich mit meinen Eltern über den Gotthardpass hierher vom Regen in die Sonne, zu den Zitronenbäumen und den Palmen gefahren, und seither hat mich diese Welt nicht mehr losgelassen.

Und dann ist da natürlich das grossartige Werk Roberto Donettas. Er wird ein wenig ignoriert von den Deutschschweizern; aber er hat eine phänomenale Arbeit geleistet. Und, das darf man nicht vergessen, das war zu seiner Zeit ein enormes Unterfangen. Es gab damals noch nicht diesen grundsätzlichen Reichtum, der hier heute herrscht.

Wie würden Sie die Bedeutung, den Wert der Sammlung von Roberto Donetta einschätzen, die im Museum in Corzoneso aufbewahrt wird?

Ich fühle mich ihm sehr verwandt. Er war dazu gezwungen, Auftragsarbeiten anzunehmen. Für seine Porträts hat er vielleicht ein wenig Geld verdient, aber bestimmt nicht viel. Und dann hatte er seine persönlichen Visionen, die er versucht hat, in der Photographie zu realisieren. Eine Art Doppelleben. Wie ich, auch ich hatte ein Doppelleben: Ein Leben in Schwarzweiss, und eines in Farbe.

Man kennt vor allem Ihre Arbeiten in Schwarzweiss. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Sie für Zeitschriften und Zeitungen zu einer Zeit gearbeitet haben, in der Photos nur in Schwarzweiss gedruckt werden konnten. Wie sind Sie mit der Farbe umgegangen, als die Technologie verfügbar wurde?

Wirklich angefangen hat das mit einer Arbeit für die Zeitschrift DU. Die Zeitschrift war die Visitenkarte der Druckerei Conzett & Huber, die zugleich der Verlag war, und sie wollte daher mit Farbdrucken glänzen. „Der Burri bringt die Farbe!“ hiess es damals, und so wurden aus der einen Kamera, die ich üblicherweise dabei hatte, zwei, drei, ja manchmal sogar vier Apparate, mit den verschiedensten Farb- und Schwarzweissfilmen, und mit diversen Objektiven.

Hat sich Ihr Sehen durch die Farbe verändert, Ihre Art zu fotografieren?

Ja, sicherlich. Das Farbmaterial war ja anfangs auch noch viel langsamer, viel weniger empfindlich. Ich erinnere mich an die Aufnahmen eines Stierkampfes in Pamplona. Da hatte ich einen Kodachrome 25 in der Kamera, stand im Schatten, und musste 1/10 Sekunde belichten. Die Bilder wurden, na, wenn ich so sagen darf, impressionistisch, ein wenig wie die von Ernst Haas.

Es haben sich, durch die verschiedenen Empfindlichkeiten, die Einsatzgebiete von Farbe und Schwarzweiss zunächst stark getrennt. Für das Schnelle, die Reportagen, habe ich mehr Schwarzweiss verwendet. Und für langsamere Aufnahmen, für Architekturbilder kamen Farbfilme zum Einsatz, und Auge und Hirn haben die Welt dann anders gesehen.

Werden wir Gelegenheit haben, den „farbigen Burri“ kennenzulernen?

In den letzten Monaten bin ich dabei, die Kisten zu öffnen, zu sichten, und eine farbige Spur zu finden, die sich durch die Jahre und Länder hindurchzieht. Bilder zusammenzustellen, die in einem reichhaltigen Leben entstanden sind. Wenn mir das gelingt, bin ich vielleicht in einem halben Jahr soweit. Dann wird ein unbekannter Burri zum Vorschein kommen: René Burri in Farbe.

Sie haben Ihr Leben lang analog gearbeitet, seit einiger Zeit sind Sie aber mit einer digitalen Leica M8 unterwegs. Was hat sich verändert?

Die ganze Welt hat sich verändert. In der Pressephotographie ist heute nichts mehr wie es war. Zu unserer Zeit haben wir unsere Kameras mit Filmen geladen, sind an unseren Einsatzort gekommen, haben photographiert, haben Bildlegenden geschrieben und die Filme in die Redaktion geschickt. So manches Mal mussten die Filme durch die Zensur gehen. Es passierte, dass Filme zu spät ankamen, manchmal auch überhaupt nicht.

Heute hingegen machst du ein Bild, in wenigen Sekunden ist das Resultat zu sehen, und in ebensowenigen Sekunden ist es schon in der Redaktion. Das hat die Kommunikation in ihren Fundamenten verändert.

Natürlich gilt das nicht nur für die Photographie. Auch Ärzte oder Bauern arbeiten heute vollkommen anders als vor 30 oder 50 Jahren.

Aber die Tatsache, dass heute jeder eine Kamera in der Tasche hat und die Menschen hunderte von Photos in einem Urlaub machen, ändert nichts daran, dass es für ein Photo mehr braucht als Technik: Es braucht einen Blick, es braucht Intelligenz, es braucht Herz, und es braucht Arbeit in den Beinen, denn man muss sich vom Platz bewegen, den richtigen Standpunkt finden.

Und für Sie persönlich?

Was das Ergebnis betrifft, kann ich noch überhaupt nichts sagen. Das Buch mit Farbphotographien, das ich plane, hört vor der digitalen Ära auf. Ich werde meine digitalen Bilder erst noch sichten und auswerten müssen.

Aber es ist schon eine riesige Erleichterung für mich, nicht mehr einen Sack mit Kodachrome-Filmen mit mir herumzuschleppen, sondern auf einer einzigen Karte 500 Bilder abzuspeichern. Dazu kommt, dass ich genauso arbeiten kann wie früher, das Leica Look-and-Feel ist gleich geblieben.

Was zeichnet ein gutes Photo aus?

Diese Frage wird Ihnen jeder Photograph, den Sie fragen, anders beantworten.

Ich meine, es gibt eine gewisse Ordnung: Ich selber bin ja durch eine sehr strenge Schule bei Hans Finsler gegangen. Finsler und seine Kollegen waren ehemalige Bauhaus - Leute. Er selbst hatte in München und Stuttgart Architektur studiert, und uns ein grosses Gepäck an Wissen über Perspektive, Linien, und Bildaufbau mitgegeben.

Wir wurden durch einen gewissen zürcherischen Protestantismus gedrechselt: Endlos habe wir Eier, Flaschen, Kaffeetassen ausgeleuchtet und photographiert.

Ehrlich gesagt war das nicht mein Ding - ich war jung, und wollte in die Welt, wollte sehen, photographieren, erleben.

Zurückschauend, war das natürlich ein sehr wichtiges und bildendes Training, ein Handwerk im wörtlichen Sinne, das mir dann erlaubt hat, in die Berufswelt einzusteigen. Aber wir wussten so viel über Linien, Fluchten, Ausleuchtung und graphischen Aufbau, dass es nicht leicht war, in die wirkliche, in die bewegte Welt hinauszutreten. Als ich die ersten Male mit meiner Rolleiflex unterwegs war, rief ich den Leuten noch zu, sie sollten stehen bleiben, damit ich das Bild machen konnte. Erst nach und nach bekam ich diesen Fluss in den Griff, die Komposition in Bewegung, die Grafik einer lebendigen Welt.

Sie mussten schneller werden.

Ja, das Sehen hat sich verändet, ich habe begonnen, vorauszuschauen. Und, es hat mir geholfen, dass ich als Junge auf dem Bauernhof meines Grossvaters so gerne Fliegen gefangen habe: ich war reaktionsschnell.

Was ist also ein gutes Photo?

Es muss auf jeden Fall einmal gut strukturiert sein. Dann hat es mit Emotion zu tun, und auch mit einer Haltung. Der eigene Blickwinkel ist ja eine Position, im wörtlichen Sinne. Ein gutes Bild zeigt daher immer auch eine Stellungnahme des Photographen.

Die Photographie hat etwas, das kein anderes Medium hat: Einen Augenblick des Lebens festzuhalten, einen Augenblick, der niemals wiederkommt, zu verewigen - ob das ein historisch, kulturell oder politisch wichtiger Moment ist.

Das ist es, was ich gesucht habe: statt mit siebzehn Jahren vor einer Leinwand zu stehen, wollte ich hinaus, in die Welt, das Leben zu sehen, es zu begreifen, festzuhalten.

Ist dort auch der Antrieb für Ihre unendlich vielen Reisen - Sie haben kiloweise Boarding-Pässe in Ihrem Archiv. Woher diese Wanderlust?

Neugier, vor allem. Lust auf das Leben. Der Wunsch zu entdecken, zu begreifen.

Sie haben unzählige prominente Persönlichkeiten abgelichtet. Von Pablo Casals über Le Corbusier und Jean Louis Barrault, bis hin zu Picasso und Jean Tinguely. Viele dieser Aufnahmen, wie Ihre wohl berühmteste von Che Guevara, entstanden in Reportagen, für die Sie beauftragt worden waren. Andere hingegen, wie die von Picasso, Le Corbusier oder Alberto Giacometti, aus eigenem Antrieb.

Ja, eigener Antrieb, das drückt es sehr gut aus. Es ging mir dabei aber nicht darum, mich diesen Personen anzunähern, nur weil sie „Prominente“ waren. Sondern der Impuls, ihre Nähe zu suchen, kam aus ihrem Werk. Bei Picasso zum Beispiel habe ich sein Bild "Guernica" im Jahr 1953 das erste Mal gesehen – und ich wusste: „Diesen Mann musst Du kennenlernen."

Sie sehen sich also nicht als Paparazzo?

(Lacht).. Nein, ganz und gar nicht. Diese Gelegenheit habe ich vor vielen Jahren verpasst: Es war in den Fünfzigerjahren, in New York. Ich stolzierte durch die Strassen der East Side, mit meinem Apparat, kaum jemand war auf den Strassen.

Plötzlich kam eine Dame auf mich zu, mit einer schwarzen Sonnenbrille, und als sie näher kam, erkannte ich, dass es Greta Garbo war. Ich habe meinen Apparat genommen, habe ihn eingestellt. Als wir auf gleicher Höhe waren, lächelte sie mich an, und ging an mir vorbei. Und ich war nicht fähig, meine Kamera zu heben und das Bild zu machen. In diesem Moment habe ich meine Gelegenheit verspielt, Paparazzo zu werden.

Und noch heute erinnere ich mich an diese zwanzig Sekunden mit grossem Vergnügen, an den Moment, in dem ich begriffen habe, dass es die grosse Greta Garbo war, die dort aufgetaucht war, und dass ich mich sozusagen allein mit ihr in den Strassen New Yorks wiederfand. Aber was hätte ich machen können? Einen Schnappschuss? Darum ging es nicht. Also habe ich meine Lektion Nummer werweisswieviel gelernt: Man muss wissen, wie man mit seinem dritten Auge umgeht. Und jedes Mal wieder muss man entscheiden: Ja, oder nein. Diese Entscheidung damals war wichtig.

Worum ging es also auf der Suche nach Ihren Bildern?

Was ich suchte, war der Kontakt. Wirklich gute Bilder entstehen nur aus einem Kontakt heraus. Diesen Kontakt herzustellen, darum ging es. Auch wenn es häufig schwierig war, und ich lange warten musste, wie bei Picasso. Da vergingen zwischen meinem Kennenlernen seines Werkes und einem persönlichen Treffen vier Jahre. Aber wenn die Absicht da ist, übernimmt den Rest der gezüchtete Zufall.

Wie züchtet man Zufälle?

Es gibt sie ja eigentlich nicht, die Zufälle. Aber wenn man sie züchtet, wenn man für sie arbeitet, entstehen Sie, zum Beispiel durch eine Art des „aktiven Wartens“, wie bei Picasso. Dann muss man nur noch bereit sein, im richtigen Moment das Richtige zu tun.

Mehrere Jahre lang habe ich vergebens versucht, einen Termin mit dem grossen Maler zu bekommen – vergebens. Dann habe ich eines Tages die Information bekommen, dass Picasso zum Stierkampf nach Nîmes kommen sollte. Ich habe die Koffer gepackt und bin nach Nîmes gefahren. Und dort hat mir der Zufall geholfen, den ich gezüchtet hatte.

Ich habe ein Zimmer im erstbesten Hotel in Nîmes genommen - wie sich herausstellte im gleichen wie Picasso. In seinem Zimmer feierte er mit ein paar Freunden. Ich habe ein Zimmermädchen mit einem Lächeln bestochen, sie hat mich in sein Zimmer geschoben, und so traf ich endlich auf den verehrten Maler.

Es braucht aber auch eine gewisse Unverfrorenheit...

Na, zu einem gewissen Grad vielleicht. Aber man mus auch sehen: die Zeiten waren andere. Picasso zum Beispiel war ja ein grosser Maler, vielleicht auch ein Star, in gewisser Weise. Er war damals in seinen Siebzigern, so wie ich heute, und es entstand zwischen uns so etwas wie ein Kontakt vom Vater zum Neffen, er hat einen jungen Mann wie mich unter seine Fittiche genommen, wenn man so sagen kann. Da ging es auch darum, etwas weiterzugeben, etwas zu öffnen, und der Kontakt, der so entstand, war etwas sehr Menschliches. Erst daraus konnten dann ja auch diese Photos entstehen. So ähnlich war es auch mit anderen, mit Le Corbusier, mit Alberto Giacometti. Das waren kein Stars im heutigen Sinn. Es waren Künstler, auch Künstler der Avant-Garde, aber sie sind immer auf einer menschlichen Ebene geblieben.

Das alles war doch sehr weit entfernt vom heutigen Showbusiness und dem Kult, der um die Stars gemacht wird, oder den sie um sich selbst machen. Mit zwei Redakteuren von der Süddeutschen Zeitung war ich zu einem Phototermin bei Anselm Kiefer im Schwarzwald, für eine Spezialnummer des SZ-Magazins mit seinen Protraits. Überwachungskameras, Helikopter-Landing, Sicherheitschecks. Wir rauchten Zigarren, ich fand ihn mit seinen Panzern in seiner Grube recht sympathisch. Als wir uns verabschieden wollten sagte er: „Burri, kann ich die Filme haben?“. Die beiden Redakteure blickten verlegen auf ihre Schuhe, und ich verstand, sie hatten ihm die Filme zugesichert – sie hatten mir aber nichts davon gesagt. „Die Filme? Gerne!“ habe ich geantwortet. Habe die Kamera geöffnet, den Film rausgenommen und ihn langsam aus der Spule ins Licht gezogen. Er hat mich bald gestoppt, und gesagt, er wolle die Bilder vor einer Veröffentlichung sehen. Ich habe ihm geantwortet, dass ich vor einigen Jahren einen anderen Maler mit Vornamen Pablo photographiert hätte, und dass diesem niemals in den Sinn gekommen wäre, die Bilder vorher sehen zu wollen. Ich bin aufgestanden und gegangen.

Das meine ich, wenn ich sage, dass die Zeiten sich geändert haben. Dazu kommt natürlich, dass ich Anselm Kiefer nicht aus eigenem Antrieb, aus einem persönlichen Wunsch heraus aufgesucht habe, sondern dass ich sozusagen Teil der heutigen Medienmaschinerie war. Da gelten andere Gesetze, entstehen andere Beziehungen, andere Arten von Kontakt.

Trifft man Sie nie ohne Kamera an?

Ich kann es mir kaum vorstellen. Sie ist zu meinem dritten Auge geworden. Einmal, als ich Cartier Bresson um Mitternacht in Zürich am Bahnhof abholte, sagte er: „Hände hoch! Wo ist deine Leica?“. Ich hatte sie zu Hause gelassen. Das war eine wichtige Lektion. Seit dieser Begegnung habe ich sie immer dabei. Wer die Welt beobachtet, kennt keine Stunde. Die Kunst ist auch, zu wissen, wann die Kamera nicht einzusetzen ist. Es geht nicht darum, dauernd zu fotografieren. Aber WENN ein Bild entstehen soll, muss man den Apparat dabeihaben. Und da man nicht wissen kann, wann der Moment für ein Bild kommt, muss sie einfach immer zur Hand sein.

Welches sind die Objektive, die Sie am meisten benutzt haben?

Cartier Bresson sagte: 35, 50, 90. Aber ich war neugierig, und habe alle möglichen Brennweiten ausprobiert. Eines meiner besten Bilder habe ich mit einer 200 Milimeter-Linse gemacht. Ich habe das Spiegelobjetiv von Leica, ein TELIT ausprobiert, sogar ein Fisheye hatte ich einige Zeit lang, einen Motor, ja, man wollte ausprobieren.

Erst spät habe ich gemerkt, dass in Wirklichkeit eine grosse Wichtigkeit in der Reduktion liegt.

Zeitweise war ich mit vier Kameras unterwegs, mit zwei Leicas und zwei Nikons, für Farb- und Schwarzweissfilme und die verschiedene Objektive. Da ist eine grosse Unruhe bei der Arbeit entstanden, und es war fast unmöglich, ein wirkliches Profil herauszuarbeiten.

Jetzt bin ich eigentlich wieder glücklich: Auf meiner Leica M8 habe ich das Leica Elmarit-M 1:2,8/28 mm, das auf das Kleinbildformat umgerechnet einer 35 mm - Linse entspricht.

Sprechen wir für einen Moment nicht über den Photographen René Burri, sondern über den Mann.

Das ist komplizierter...

Sie haben einmal gesagt, Sie seien Optimist. Ist also für Sie ein Glas eher halbvoll, als halb leer?

Natürlich immer halb voll. Selbstverständlich gibt es schlimme Momente im Leben, Augenblicke, in denen es scheint, dass die Welt oder wenigstens man selber untergehen würde. Das ist wie im Boxring. Du bist zu Boden gegangen, wirst angezählt, 7..., 8..., 9.... und da musst du wieder aufstehen. Wenn du noch kannst.

Das ist sicherlich auch eine Frage der Erziehung. Wir waren ein einfacher Haushalt, aber auch während des Krieges hatten wir immer Menschen bei uns, die um Aufnahme gebeten haben: Kriegsgefangene, Männer aus Polen.... Meine Mutter hat dann häufig Suppe gekocht, sie hatte ein so grosses Herz....

Dass ich mich später immer solidarisch gefühlt habe mit den benachteiligten Menschen, hat wohl auch mit dieser Erziehung zu tun. Auch, dass ich zu den Mächtigen immer grosse Distanz gehalten habe.

Wie war Ihre Rolle während Ihrer journalistischen Arbeit. Sie versuchten, das bestmöglichste Photo zu machen. Auf was für Schwierigkeiten stiessen Sie dabei?

Ich erinnere mich noch genau: Ich war in China, und habe während einer grossen Veranstaltung einen mir bekannten Photographen gesehen. Er stand direkt hinter Mao Tse Tung. Ich habe mir damals gesagt: Es wäre phantastisch, an seiner Stelle zu sein - hinter Mao - was für wunderbare Photos könnte ich von dort schiessen!

Zwanzig Jahre später habe ich einen anderen Bekannten getroffen, der Freund und Photograph von Fidel Castro war. Er ist mit Fidel überall hingereist, war den Leibwächtern bekannt.

Wir hatten dieses Privileg niemals, wir mussten uns immer aus einer Entfernung durchschlagen. Dieser Bekannte also hat ein Buch gemacht, und ich habe ihn gefragt, ob er diese Bilder seinem grossen Herrn zeigen musste. „Aber warum, sieht man das?“ hat er geantwortet. Und ich habe begriffen, wie wichtig es für meine Arbeit immer war, frei zu sein. Nicht abhängig zu sein von den Mächtigen, sondern meinen eigenen Standtpunkt finden zu müssen. Ihn finden zu dürfen. Wir waren so etwas wie Hofnarren, zwischen allen Regeln. Man hat uns unsere Arbeit machen lassen - aber nicht zu frei! Es war mir immer klar: Man darf sich der Macht nicht zu sehr nähern, denn das ist gefährlich.

Was bedeutet Ihnen die Schweiz?

Als Jugendlicher war ich bei den Pfadfindern, und bin immer allen voran die Berge hinaufgelaufen. Die Anderen sagten: „Der Burri will der Erste sein!“ Aber das war es nicht. Ich wollte sehen, was hinter den Bergen war: wieder Berge. Und da habe ich begriffen, dass ich raus musste. Die Welt entdecken, die weite Welt jenseits der Berge.

Mein Vater war Koch. Nach dem Krieg hat er Speisen zubereitet, die angerichtet waren mit Tieren, die es in Schweizer Seen nicht gab: Crevetten, Muscheln, Aale. Ich war fasziniert von diesen Gestalten, und von den Welten, die sich in meiner Phantasie dahinter auftaten. Und ich wusste, ich wollte die Welten entdecken, aus denen diese Tiere kamen.

Die Schweiz? Man hat mich in Ägypten für einen Franzosen gehalten und in Persien für einen Engländer. Ich habe immer gesagt, dass ich Schweizer bin, und in so manchen Fällen hat es geholfen. Als Bürger eines neutralen Landes hatte ich vor allem zu Zeiten des kalten Krieges weniger Restriktionen bei Reisen in Länder der beiden Machtblöcke. Das Bild von Che Guevara ist nicht zuletzt so entstanden. Die amerikanische Journalistin Laura Bergquist, die für die Zeitschrift „Look“, damals eines der renommiertesten Magzine der Welt, gearbeitet hat, hatte kurzfristig die Zusage für ein Interview mit Che Guevara bekommen, und brauchte einen Photographen. Sie hat mich an Sylvester in Zürich angerufen, denn als Bürger der neutralen Schweiz konnte ich ohne grosse bürokratische Hürden nach Kuba reisen. Also bin ich, statt am Abend mit Freunden zu feiern, aufgesprungen, habe meine Koffer gepackt und bin über Moskau nach Kuba geflogen.

Die Schweiz ist also Ihre Heimat geblieben.

Ja, natürlich. Ich habe jedoch auch gemerkt, dass ich Weltenbürger geworden bin. Ein langer Weg.

Aber es gibt ein Schweizer Phänomen, das sich auch in meiner Arbeit niederschlägt: Man gibt hier auf Details Acht. Man hat nicht mehr als zehn Kilometer Fernsicht, weil der Blick dann an den Bergen anstösst. Also beschäftigt man sich mit dem, was naheliegt, mit den Details.

Und, die Schweiz ist für mich ein Ort der Rückkehr. Von all’ meinen Reisen bin ich immer wieder in die Schweiz zurückgekommen, ins Tessin. Ich habe hier ein Rustico, einen Ziegenstall, den ich im Laufe der Jahre ausgebaut habe, und dorthin habe ich mich immer zurückgezogen, für eine, zwei Wochen, habe Bäume gefällt, Mauern gebaut, und so langsam meinen Mut und meine Kraft wiedergefunden, wieder zu hinauszugehen in die Welt, sie zu entdecken mit all’ ihren Schönheiten, Geschichten und Widernissen.

Was würden sie einem jungen Menschen empfehlen, der Photograph werden will?

Aufmerksam zu sein auf das, was um ihn herum geschieht. Es gibt so viele Gebiete der Photographie - Architektur, Mode, Tiere, Menschen... Er muss herausfinden, was ihn interessiert. Ich selber bin weder Architekturphotograph, noch Paparazzo. In Wirklichkeit weiss ich nicht, in welches Gebiet ich mich einordnen sollte.

Ich kann nur sagen, mein Photoapparat hat mir erlaubt, die Welt zu entdecken. Und er hat mir erlaubt, mich selbst zu entdecken.

Sie waren ständig auf der Suche. Was für eine Art von Suche treibt Sie heute noch um, nach vierzig, fünfzig Jahren Photographie?

Eine gute Frage! In den sechziger Jahren habe ich Akira Kurosawa in Cannes kennengelernt. Und er ist, wie ich jetzt, gefragt worden: Warum machen Sie in Ihrem Alter noch Filme?

Kurosawa war recht perplex. Und dann hat er gesagt: „Wenn ich einen Film mache, dann gibt es Momente, in denen ich das Gefühl habe, über alles bereits Gezeigte, über Clichées, hinauszugehen. Einen Augenblick von Wahrheit, von Wahrhaftigkeit zu finden und zu zeigen. Das ist der Grund, weiterzumachen: Auch der Wunsch, jung zu bleiben, in Kontakt mit den Menschen, in Kontakt mit dem Leben zu bleiben. Bis zum Schluss.“

Das hat mich beeindruckt damals, und heute merke ich, dass es für mich ganz ähnlich ist. Suchen. Und in Kontakt mit dem Leben bleiben.

Interview mit René Burri
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  2. René Burri – Interview