Verzaubert in den finnischen Schären

Zwei Wochen auf lautloser Fahrt im Saaristomeri, einer Schärenlandschaft mit 30-70’000 Inseln, verstreut vor der finnischen Ostseeküste

Markus Zohner

„Colette ist die Schönste des ganzen finnische Meerbusens. Sie sieht nicht nur flott aus, sie ist auch sportlich, schnell, hat Tiefgang und fordert mindestens zwei, besser vier gestandene Männer. Ihr Tiefgang ist zugleich ihre grösste Gefahr: Hier in den finnischen Schären liegen unzählige Felsen im Wasser. Kannst Du navigieren? Ich brauche noch einen zweiten Mann. Es erwarten Dich zwei unvergessliche Wochen in einer verzauberten Welt!“

Raimo lächelte verschmitzt. Ein alter finnischer Seebär, der seit über vierzig Jahren allsommerlich die Ostsee besegelt. Er lebt in Helsinki, und seine geliebte Colette, eine Bénéteau First 36.7, liegt aufgetakelt im „Admiralshafen“ in Espoo am Steg des Segelclubs „Esbo Segelförening“ und erwartet ihn ständig in unstillbarer Sehnsucht.

Navigieren konnte ich - allerdings in der Luft. Und meinen ersten und bislang einzigen Segelschein hatte ich vor vielen Jahren, noch vor dem Abitur, auf einer Jolle auf dem Ammersee bei München gemacht. Ob das ausreichte für die finnischen Schären, ob das gutgehen konnte, als zweiter Mann auf solch einem grossen und schnellen Boot? Das Blitzen in Raimos Augen machte mir Mut, und so willigte ich ein.

Unter Motor fuhren wir nach dem Abendessen aus dem Hafen von Espoo aufs Meer hinaus in Richtung Westen. Es war anfang Juli, die Tage waren endlos. Der Himmel war grau, der Horizont ging nahtlos ins Meer über. Erste Manöverübungen, ein Gefühl bekommen für das Boot, das Ruder, den Motor. Sicherheitseinweisungen. Dann: Segel setzten. Leicht blähte der Wind das Großsegel, mit einem Ruck zog es an den Leinen, die durch den Mast und über den Baum zur Talje führten. Colette übernahm die Kraft des Windes sofort, neigte sich ein wenig, und glitt jetzt endlich lautlos, mit sanftem Klatschen durch die dunklen Wellen. Raimo hielt Kurs nach Nordwesten, und ich verlor mich in dieser glücklichen Wehmut, die einen befällt, wenn man aufgehoben ist in den Elementen, wenn der Wind einen treibt und das Wasser einen trägt, wenn der Himmel sich ins Unendliche ausdehnt und die einzigen Geräusche die Wellen und ein paar Möven sind, die, nicht nah und nicht fern, mit ihren Schreien die graue Luft zerteilen.

Felsen ohne Zahl ruhen hier knapp unter dem Meeresspiegel, sodass es auf den Seekarten nur so wimmelt von Untiefen, Signaltafeln, Bojen, Leuchtfeuern, Warnhinweisen und engen, gesicherten Seestrassen.
Unerlässlich also, in jedem Moment seinen genauen Ort und die aktuelle Meerestiefe zu wissen - von Autopilot oder stundenlangem Geradeaussegeln wie im Mittelmeer oder im Atlantik kann hier keine Rede sein. Ein Mann hat ständig, die Karte in der Hand und die Augen auf der Suche nach Orientierungsmarken übers Meer streifend, die Orientierung zu behalten, die aktuelle Position genau zu wissen, sich ständig zu vergewissern, dass die Gewässer sichere Tiefe haben, und vorauszusehen, was hinter der nächsten Insel kommen mag.

Ja, die Navigation! Raimo liebt es sportlich, und so hat er sich für ein Boot entschieden, das Geschwindigkeit macht, das Regatten gewinnt und das bei starkem Wind über die Wellen fliegt. Colette hatte daher eine Tiefgang von 1,80 Metern - viel zu viel für diese Gegend, weil mindestens ebenso viele unsichtbare wie sichtbare Inseln dem Seefahrer auflauern.

Das Saaristomeri, das finnische Schärenmeer, liegt vor der Südwestküste Finnlands und reicht bis zu den Åland-Inseln. Zwischen 30.000 und 70.000 Inseln, auf denen ganzjährig etwa 33.000 Menschen leben, liegen hier lustig im Wasser verstreut. Die Zahl der Inseln ist allerdings schwer zu schätzen, weil viele von ihnen so klein sind, dass gerade einmal eine Navigationstafel darauf Platz findet, oder ein Gummeli, ein weiss angestrichener Steinhaufen, der Seglern und Bootsfahrern die Orientierung erleichtert.

Doch der erste Segelabend verlief so ruhig, wie man es sich für einen Anfang nur wünschen kann. Geradeaus aufs Meer hinausgelaufen, ein wenig in Richtung Norden abgebogen, und kurz vor Mitternacht schliesslich im Dämmerlicht auf Skrubbö angelegt, der ersten der geheimen Inseln, die wir in den kommenden Wochen entdecken wollten. Ein Mitternachts-Seemannstrunk, und ich versank in einen tiefen, schaukelnden, traumlosen Schlaf.

Als ich am nächsten Morgen an Deck klettere, empfängt mich der unendliche baltische Himmel mit seinem unbegreiflichen Blau, das höher ist als irgendwo anders auf der Welt. Die Sonne wärmt bereits, ein Duft von Nadelbäumen und Meer durchwebt die Morgenluft, das Frühstück wartet. Und leichter Westwind lockt.
Nach einem kleinen Entdeckungsgang über das verlorene Inselchen mit ein paar Bäumen, einer kleinen Hütte und kniehohen Blaubeersträuchern legen wir ab, und jetzt, ja!, nimmt uns das Schärenmeer endgültig gefangen. Wir gleiten aus der Bucht hinaus.

Der Wind frischt auf, Colette legt sich etwas auf die Seite, und nun geht es lautlos durch unglaubliche Meereslandschaften, an Inseln und Felsen vorbei.

Zwischen Himmel und Meer fangen wir uns den Wind ein, sprachlos.

Die im Meer und auf die Inseln verstreuten Navigationsmittel habe ich bald verinnerlicht, Raimo weist mich in einem Schnellkurs in die Bedeutungen der Bojen, der Decktafeln, die übereinanderzubringen sind, die Gummelis, Leuchttürme und Pikkus, die roten und grünen Holzstäbe, die die Fahrwasser markieren ein, und da ich die besseren Augen habe, stehe ich bald mit der Karte in der Hand an Deck und definiere ständig, anfangs noch nervös wie ein Kind, doch dann immer sicherer unsere Posititon und den besten Weg zu unserem Ziel. Raimo steht am Steuer. Mit sicherer Hand steuert er Colette durch Engen, um Untiefen, die ich ihm zurufe, herum, und durch Schiffsfahrwasser hindurch.


Anlegen dürfen nur Clubmitglieder, und so kommen wir heute abend auf Engestö an, an deren Steg nur eine Handvoll Boote liegen. Die Segler sitzen an Deck, essen zu Abend, und als sie uns kommen sehen, steht jemand auf, um die Leinen anzunehmen, die ich an Land werfe. Raimo trägt uns ins Saunabuch ein, schwatzt mit ein paar alten Bekannten, während ich das Abendessen zubereite, und als die Sonne sich über den Horizont rollen will, gehen wir über die Insel, zur Sauna auf der anderen Seite, die schon heiss ist von den Vorgängern, tauchen nackt in die Holzkabine mit dem wummernden Holzofen und lassen die Hitze in den Körper dringen, bis die Knochen glühen und wir hinausrennen in kühle Abendluft, um uns vom Felsen hinunter ins Meer zu stürzen, lebendig wie niemals zuvor.

Der Merikarhut, der „Seebären-Club“, dessen Fahne wir im Mast führen und bei dem Raimo, ebenso wie der schwedische König, seit vielen Jahren Mitglied ist, besitzt, abseits des Ostsee-Segler-Touristentrubels, über dreissig Inseln im Schärenmeer vor der finnischen Küste. Sie haben allesamt lediglich einen Steg zum Anlegen, und eine Holzofensauna. Manchmal ein Clubhaus, eine kleine Holzhütte. Ansonsten: Bäume, Blaubeersträucher, Möven, Felsstrände. Wasser drumherum, und darüber diesen Himmel, dessen Bläue voller Wind und Norden einem vor Glück die Tränen in die Augen treibt.

Mit den Tagen erlerne ich das Segelhandwerk wieder, bald löse ich Raimo auch immer wieder bei der Bootsführung ab, und steuere Colette durch das Schärenmeer. Die anfängliche Nervosität legt sich, die Knoten gehen von der Hand, das Auge ist geübt, und Tage und Tage verlieren wir uns in dieser Meerlandschaft, die wie verzaubert daliegt, als ob sie eigens für uns geschaffen sei. Manchmal öffnet sich das Meer, und Colette legt sich ins Zeug, als wir in weiten Schlägen gegen den frischen Wind kreuzen. Dann wieder geht es durch enge Durchfahrten, zwischen Leuchttürmchen mit ihren roten und grünen Strahlen hindurch. Der Himmel ändert sich ständig, und als am Horizont eine dichte, weisse Linie von Cumuluswolken steht, sagt Raimo nur: Estland!

In Ånsören machen wir direkt an einem Felsen fest und müssen am kommenden Morgen Hals über Kopf ablegen, weil der Wind das Wasser in die Bucht drückt und die Wellen drohen, Colette’s Rumpf auf den Steinen aufzuschlagen wie ein rohes Ei. Der Wind frischt auf, wir setzen erst das erste, dann das zweite Reff, und als er mit über 10 Metern pro Sekunde übers Wasser pfeift, holen wir das Grossegel ganz ein und fahren, in unsere wasser- und winddichten Anzüge gezwängt, nur unter Fock bis nach Korpoström weiter.

Auf Stensören werfen wir erstmals den Heckanker, zum Glück hatte ich das andere Ende der Leine trotz der Eile am Boot befestigt. Raimo rudert zu den Fischern am anderen Ende der Bucht und bringt das Abendessen zurück, feinsten Lachs, von hungrigen Seglern kaum gebraten, schon verschlungen. Auf Caisarhamnen treffen wir Siiri und ihre Freundin wieder, die eine Abkürzung genommen haben, wir plaudern ein wenig im ewigen Sonnenuntergang bei einem Glas Weisswein, und ich beschliesse, einfach hier sitzen zu bleiben in dieser einmaligen Natur mitten im Meer, zwischen Nadelbäumen, Felsen und blendendweissen Segeln, in dieser süssen, rauschenden Einsamkeit voller Luft, unter diesem unendlichen Himmel, der niemals dunkel wird.

In Madgravan schwatzen wir ein wenig mit Siiri, die ganz neu ist im Seebären-Club und die jetzt mit ihrer Freundin ein paar Wochen auf Törn ist. In Hanko verbringen wir bei Regen ein paar Ruhetage im Hafen, gehen essen, tanken Wasser und Strom. In Kiwskär kommt die Sonne wieder zum Vorschein und wir können endlich die Kleider trocknen und, anders als im grossen Seglerhafen in Hanko, wieder allein in die Sauna am Strand gehen. Ich sammle gerade Blaubeeren in den nassen Büschen, als dicht neben meiner Hand eine Viper die Flucht ergreift.

In Ånsören machen wir direkt an einem Felsen fest und müssen am kommenden Morgen Hals über Kopf ablegen, weil der Wind das Wasser in die Bucht drückt und die Wellen drohen, Colette’s Rumpf auf den Steinen aufzuschlagen wie ein rohes Ei. Der Wind frischt auf, wir setzen erst das erste, dann das zweite Reff, und als er mit über 10 Metern pro Sekunde übers Wasser pfeift, holen wir das Grossegel ganz ein und fahren, in unsere wasser- und winddichten Anzüge gezwängt, nur unter Fock bis nach Korpoström weiter.

Auf Stensören werfen wir erstmals den Heckanker, zum Glück hatte ich das andere Ende der Leine trotz der Eile am Boot befestigt. Raimo rudert zu den Fischern am anderen Ende der Bucht und bringt das Abendessen zurück, feinsten Lachs, von hungrigen Seglern kaum gebraten, schon verschlungen. Auf Caisarhamnen treffen wir Siiri und ihre Freundin wieder, die eine Abkürzung genommen haben, wir plaudern ein wenig im ewigen Sonnenuntergang bei einem Glas Weisswein, und ich beschliesse, einfach hier sitzen zu bleiben in dieser einmaligen Natur mitten im Meer, zwischen Nadelbäumen, Felsen und blendendweissen Segeln, in dieser süssen, rauschenden Einsamkeit voller Luft, unter diesem unendlichen Himmel, der niemals dunkel wird.

Verzaubert in den finnischen Schären
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