Die Wildpferde vom Monte Bisbino
Ein Rossmärchen
Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer.
Konfuzius
Eine graue Brühe schwappte um den Gipfel des Monte Generoso, der in der Ferne aufragte. Nasse Wolkenfetzen leckten seine Felswände blank. Die umliegenden Berge verschwanden in der Nebelsuppe, hie und da tauchte kurz einer von ihnen auf, um sich von der Existenz der Welt zu überzeugen, zog sich jedoch sogleich schaudernd wieder seinen nebeligen Umhang über den Kopf. Es regnete in Strömen, schwere Schneetropfen mischten sich unter das vom tiefen Himmel fallenden Wasser. „Finito, Signor!“ Es war der 26. Januar 2003. Burak hatte gerade den Kuhstall ausgemistet, und trat in die niedrige Stube. Roberto Della Torre sass, wie meistens in letzter Zeit, in seinem abgewetzten Sessel, das Sauerstoffgerät an die Lehne gehängt. Auf dem kleinen Tischchen vor ihm eine offene Schachtel seiner geliebten Brissago-Zigarillos, mit längst vertrockneten Tabakstengeln. Seit langem hatte er keine mehr anrühren können, aber er liess sie in Reichweite liegen. Ihr Anblick wärmte ihm das Herz, oder das, was von ihm übriggeblieben war. Seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren lebte er hier oben auf der Alpe Boec, im Niemandsland zwischen der Schweiz und Italien, wo der Blick weiter reicht als jeder Gedanke – auf einer meist mit Sonne übergossenen, heute jedoch in zähe, klebrige Nebelschwaden gehüllten Kuppe in tausenddreihundert Metern Höhe. Roberto war ein eigenartiger Kauz, bekannt in der ganzen Gegend. Obwohl er ein reicher Mann war und mehrere Häuser in der Stadt besass, lebte er hier oben in der bergigen Wildnis mit seinen Tieren. Seine Pferde liess er meist frei grasen; im Winter gab er ihnen Heu, und wenn sie einmal zu weit hinunterstiegen und sich in die Dörfer verliefen, ging er ihnen einfach nach und holte sie zurück. Manchmal, wenn sich die Herde zu sehr vergrösserte, fing er mit seinem Helfer Burak und ein paar anderen Burschen einige Tiere ein, lud sie auf einen Lastwagen und brachte sie ins Schlachthaus.
Der Tod
Jetzt stand die Herde auf einer Koppel. Schon lange konnte Roberto die Tiere nicht mehr versorgen, die Krankheit hatte ihm Schritt für Schritt alle Kräfte geraubt. Wenn Burak nicht gewesen wäre, wären die Kühe längst verhungert, die Pferde davongelaufen, die Ziegen verendet, die Hühner von Füchsen, Wieseln und Dachsen gefressen worden. Burak sprach kaum italienisch. Er war aus Anatolien gekommen, und hatte sich, ohne irgendwelche Genehmigungen, bei dem Bergbauern verdungen, Hand gegen Aufenthalt und Essen, und ein kleines Taschengeld dazu. Obwohl er das Atmen des Bauern hörte, wusste Burak, dass etwas vorgefallen war. „Finito, Signor!“ wiederholte er, etwas lauter. Roberto blickte nicht zu ihm auf. Burak trat zu dem Bauern hin, berührte seine Hand. Sie war eiskalt. Er hob den Kopf des Alten leicht an, blickte in das bleiche Gesicht mit den halboffenen Augen und dem fallenden Unterkiefer. Langsam liess er den kalten Kopf wieder sinken. Stellte das Sauerstoffgerät ab. Stille. Burak blickte sich in der Stube um, dann nahm er sich ein Stück Brot und trat hinaus. Sein Blick streifte über die Weiden, er nahm die Pferde auf der Koppel wahr, die er in den vergangenen Jahren versorgt hatte, die paar Ziegen, den Kuhstall, die Hühner. Er blickte zum Himmel, sah aber nichts als die dunklen Wolken, die schwer um die nahen Gipfel wogten. Nass klatschte der Schnee jetzt auf die durchweichte Erde. Er atmete tief durch, dann machte er sich auf den Weg hinunter ins Tal, um unten in der Stadt der Polizei einen Zettel mit der Anzeige des Todes des Bergbauern zukommen zu lassen und auf Wanderschaft zu gehen, bis sich eine neue Arbeit fände. Doch nach ein paar hundert Metern hielt er inne. Ging zurück zur Koppel. Stellte den Strom der Umzäunung ab, und öffnete ganz langsam das Gatter.
Skandal
Der Winter 2009 war einer der härtesten der letzten Jahrzehnte. Der Frost hatte ganz Europa monatelang fest im Griff, hoher Schnee bedeckte die Landschaft bis hinunter nach Italien. Es war an einem Nachmittag im Januar, die Luft klirrte vor Kälte, als in Rovenna, einem kleinen italienischen Dorf oberhalb von Cernobbio, Giuseppina wie jeden Sonntag zum Grab ihres vor zwei Jahren verstorbenen Mannes gehen wollte, ihm ein paar frische Blümchen zu bringen und ein neues Licht aufzustellen für seine Seele. Als sie durch das eiserne Tor kam, fiel sie vor Schreck in Ohnmacht: Eine Herde stattlicher Pferde trampelte über den Friedhof und frass die Blumen von den Gräbern. Ganze Kranzgebinde verschwanden knirschend in Pferdemäulern.
Der Skandal in Rovenna war gross. Und als die Herde, angeführt von einer grossen Maultierstute, wenig später auch in den Nachbardörfern einfiel und auf der Suche nach Nahrung ganze Gärten verwüstete, waren die Pferde schnell identifiziert: es waren die verwilderten Pferde vom Monte Bisbino, die seit dem Tod ihres Besitzers vor sechs Jahren frei in den Höhenlagen um den Monte Generoso gelebt hatten und die jetzt, auf verzweifelter Nahrungssuche, die Niederungen aufsuchten, beschauliche Dörfer aus ihrem Winterschlaf rissen und Gärten und Bauernhöfe nach Essbarem abgrasten.
Das Drama hatte begonnen.
Die Gemeinde von Cernobbio gab den Befehl aus, die „potentiell gefährlichen“ Tiere einzufangen und an einen sicheren Ort zu bringen. Und da die Besitzverhältnisse vollkommen ungeklärt waren – ein Erbstreit um den Nachlass des Roberto Della Torre war auch jetzt, sechs Jahre nach seinem Tod, noch nicht entschieden – stand sogar die Möglichkeit im Raum, dass die herrenlosen Tiere vom Gericht beschlagnahmt würden.
Libertad o muerte!
Zur selben Zeit ging die Sage von einer weiteren wilden Pferdeherde in den umliegenden Bergen. Niemand wusste, um wieviele Tiere es sich handelte oder wo sie sich genau befanden. Bis eines Tages eine Handvoll Haflinger durch das 308 Seelen zählende Schweizer Dorf Sagno polterten. Wieder gab es Unruhe. Woher kamen die Pferde? Wem gehörten sie? Was mit ihnen anfangen? Wem konnten sie schaden? Unkontrollierte Freiheit ist nicht etwas, das in der Schweiz ohne weiteres existieren darf.
Tierschützer und Vereinigungen erwachten, wollten die verhungernden Tiere füttern, und jetzt gab es richtig Streit, der darin gipfelte, dass der Bürgermeister von Sagno, Giuseppe Tettamanti, damit drohte, die Pferde nach Bellinzona ins Schlachthaus bringen zu lassen.
Dann, kurz darauf jedoch Theatercoup jenseits der Grenze. Der Präfekt von Como verfügte, bis die Erbsituation geklärt war, die Freiheit der Herde von La Mula, der Maultierstute, die die Gruppe auf italienischem Gebiet anführte.
Anders in der Schweiz: Die Herde von La Bionda, die sich schon vor sechs Jahren zu Beginn der freien Wanderschaft von der La Mula-Herde getrennt hatte, sollte laut dem Bürgermeister möglichst bald dem Abdecker zugeführt werden, weil sie wiederholt in Sagno eingefallen war und nicht nur Unruhe brachte, sondern auch, wie er und seine Anhänger postulierten, eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ war.
Sie ist im Tessin recht häufig anzutreffen, diese pragmatische Kaltschnäuzigkeit von Politikern, die sich darin gefallen, vor allem Dinge, die ihnen nicht zu ihrem eigenen Vorteil gereichen, mit rabiaten Lösungen vom Tisch zu wischen.
Gefangenschaft
Wir spiegeln uns ja bekanntlich in allem wider, was uns umgibt. Wie wir uns mit den anderen Menschen, mit den Tieren, den Dingen, aber auch mit Philosophien und Werten identifizieren, bestimmt, welche Haltung wir zu ihnen einnehmen - und erzählt letztendlich alles über unsere eigene Seele, über unseren eigenen inneren Zustand. Es ist, als ob die Welt um uns und unsere Haltung zu ihr dem aufgeschlagenen Buch unseres inneren Lebens entspräche.
Die Menschen, gefangen in ihrem Leben, in ihren Berufen, Häusern, Familien, in ihrer Altersvorsorge und den Hypotheken für ihr Haus, in Parkverboten, Waschtagen, Mülltrennungsvorschriften und abgezählten Ferientagen, in all’ den Regeln, die uns das System – im Namen der Freiheit – aufzwingt, begannen, sich mit der totalen Freiheit dieser Pferde zu identifizieren. Die Vorstellung, dass diese Kreaturen, die einer alten arabischen Legende zufolge von Gott aus einer Handvoll Südwind, über die er hauchte, erschaffen worden sind, dass also diese Pferde ohne Besitzer, ohne Nutzen und daher ohne Zwang in der Wildheit der Tessiner Berglandschaft ein Leben führen konnten, das vollkommen ihrer Natur entspricht, liess die Menschen von Freiheit träumen. Von ihrer eigenen Freiheit. Von einer totalen Freiheit, von einer Freiheit, die es für den Menschen nicht – oder nur unter grossen Opfern – gibt. Tatsächlich ist Freiheit wohl so etwas wie Gott: Wir können an sie glauben, wir können nach ihr streben, wir können versuchen, uns ihr anzunähern, so, wie wir versuchen können, uns einem Gott anzunähern. Und genau wie bei Gott es sieben Todsünden – Trägheit, Völlerei, Wollust, Habsucht, Zorn, Neid und Hochmut – und hunderte ihrer Spielarten sind, die uns von ihm entfernen, so entfernen uns diese von der Freiheit. Wir bauen uns bequeme Häuser, fahren mit dem Auto, riesige Fernseher hindern uns am Aufstehen, wir kaufen Liebe, die Kühlschränke quellen uns über, wir haben die Konten prall von Geld, glauben uns und unsere Kultur das Zentrum der Welt – und sehen nicht, dass wir in jedem Moment für all diese Sünden, obwohl wir gerade sie für Freiheit halten, mit ebendieser bezahlen.
Wer frei ist, muss sich auf die Suche begeben. Nach einem Schlafplatz. Nach Essen. Nach Gesellschaft. Nach Liebe. Nach sich selbst. Denn er weiss, dass er nicht sein Auto, nicht sein Fernseher ist, und dass gekaufter Sex keine Liebe ist. Wer frei ist, ist hungrig. Er friert, und ist verletzlich. Wer frei ist, ist arm und wird reich. Wer frei ist, hat Angst und überwindet sie. Und wer frei ist, sieht den Mond untergehen, begegnet Menschen und Tieren, kennt die Tränen des Glücks und weiss um den Wert jedes Augenblickes. Wer frei ist, weiss, dass die einzige Möglichkeit zu leben im Geben liegt, weil es das Geben ist, das uns die Freiheit schenkt.
Dass Freiheit aber auch bedeutet, in schwierigen Situationen auf Hilfe angewiesen zu sein, begriffen ein paar Menschen beim Anblick dieser verwilderten Pferde, die sechs Jahre lang, sommers wie winters in der Tessiner Bergwelt gelebt, sich ernährt, getränkt und fortgepflanzt hatten und die jetzt in bitterer Kälte halb verhungert durch die winterlichen Dörfer streiften.
Vereine begannen, sich für die Freiheit der Tiere stark zu machen. Erste Zeitungsartikel erschienen zunächst in der regionalen, dann in der nationalen Presse, Radio- und Fernsehsender rückten an, und plötzlich war die ganze Gegend, ja bald die ganze Schweiz und die benachbarte Lombardei vom Freiheitsfieber für die Tessiner Wildpferde angesteckt.
Im März 2009 gab es ein erstes Treffen von sieben Tierschutzvereinigungen mit dem Stadtrat von Sagno, in dem der Bürgermeister sich endlich ein wenig einsichtiger zeigte. Unter der Bedingung, dass die Pferde gezählt und registriert wurden, und dass die Eigentumsverhältnisse geklärt und festgelegt wurden, rückte er von seiner Forderung nach der Schlachtung der Tiere ab.
Von den Pferden keine Spur
Während die Herde von La Mula immer wieder oberhalb von Rovenna gesichtet wurde, gab es jetzt jedoch keine Spur mehr von der La Bionda - Herde, die Sagno heimgesucht hatte. Pferde sind sensible Tiere, und „La Bionda“ hatte wohl verstanden, dass es weiser war, sich von Sagno mit seinem schnellschiessenden Bürgermeister fernzuhalten.
Eine Gruppe von Freiwilligen machte sich auf die Suche. Noch vor Sonnenaufgang brachen sie in Sagno auf und stiegen durch den Schnee die Berge hinauf. Sie fragten Bergbauern und Bewohner von Rustici, konnten aber keine Hinweise bekommen. Am zweiten Tag der Suche trafen sie auf den Bewohner eines Hauses in Piazzola, der die Pferde gesehen hatte. Er erzählte, dass sie sich, vor Hunger völlig erschöpft, vor dem Schnee in einen verfallenen Stall ein paar Kilometer weiter zurückgezogen hatten und dass die Gefahr bestand, dass sie dort verendeten. Um zu überleben, so berichtete er, frassen sie gar ihre eigenen Ausscheidungen. Als der Suchtrupp den fraglichen Stall erreichte, war er verlassen. Am dritten Tag der Expedition gab es Hinweise darauf, dass die Herde zum Monte Bisbino weitergezogen war, wo sie schliesslich auch gesichtet wurde: La Bionda, die prächtige, jetzt allerdings vollkommen erschöpfte Leitstute mit einem soeben geborenen Fohlen, und sieben weitere Pferde, gefolgt von einem mächtigen Hengst, gingen langsam durch den tiefen Schnee zu einem Waldstück, in der Hoffnung, dort etwas Laub und ein paar dürre Zweige im Unterholz zu finden.
Frühling
Endlich kam der Frühling, und mit der Schneeschmelze entspannte sich die Situation. Beide Herden kehrten zum Monte Bisbino zurück. Sie teilten sich die Weiden der Sella Cavazza der Alpe Böc und die Wiesen hinter der Kirche. Hinter der Alm gab es eine Quelle, die ausreichend Wasser für alle Pferde spendete.
Obwohl sie häufig ihre Territorien untereinander tauschten, trafen die beiden Herden nie aufeinander. Die beiden Hengste bewachten ihre jeweiligen Herden, ohne dass es je direkte Auseinandersetzungen zwischen ihnen gab.
Anfangs Juni wurde ein junger Hengst aus der Herde von La Mula, der Maultierstute, ausgestossen. Er stieg den Berg hinunter bis nach Rovenna, wo er meist unter einer Pinie stand und Besuch von Kindern des Dorfes bekam.
Es war ein heisser Sommer. Es regnete kaum, die Sonne brannte vom Himmel, der Boden trocknete aus, und langsam versiegte das Wasser der Quelle. Die beiden Herden verschwanden, und tauchten schliesslich, von ihren Leitstuten zu einem kleinen Fluss mit einer ständig sprudelnden Quelle geführt, einige Kilometer nordöstlich am Monte San Bernardo wieder auf.
Jagd mit Mistgabeln und Schaufeln
Da Pferde keine Wiederkäuer sind, sondern die Nahrung durch ein ausgeklügeltes Darmsystem mit einem bis zu dreissig Liter fassenden Blinddarm aufspalten und verwerten, müssen sie grosse Mengen an Futter aufnehmen. Wenn genügend davon zur Verfügung steht, frisst ein Haflinger pro Stunde gut und gern drei bis fünf Kilo Gras. Bis zu 16 Stunden grasen die Tiere am Tag, wobei ein Pferd bei üppiger Vegetation bis zu sechzig Kilogramm aufnehmen kann. Eine Herde von zehn Pferden wie die von La Bionda vertilgt also unter guten Bedingungen sechshundert Kilo Gras pro Tag.
Man kann sich die Empörung der Bergbauern um den Monte Bisbino und den Monte Generoso vorstellen, als plötzlich eine Herde wilder Pferde über ihre Weiden, auf denen nicht nur Gras für ihre Kühe wachsen, sondern von denen auch das Stroh für den Winter eingefahren werden sollte, herfiel und sie kahlfrass.
Sie griffen zu harten Mitteln, diese Bauern. Mit Mistgabeln und Schaufeln bewaffnet schlossen sie sich in Gruppen zusammen und jagten die Tiere Abhänge und Schluchten hinunter, spalteten die Herden, und wurden nicht müde, ihnen nachzusetzen.
Plötzlich wieder eine Wendung, Anfang August 2009: Frau Maria Grazia Erba, Schwägerin des Roberto Della Torre, und ihre Tochter, wurden vom Gericht in Menaggio als Erbinnen von Della Torre bestimmt und damit zu Eigentümerinnen der Pferde. Eines Tages stiegen die beiden Damen mit Helfern hinauf in die Berge, fingen sich eine Stute ein, verluden sie in einen Anhänger und brachten sie in eine Reitschule. Grosse Empörung bei allen Pferde-Sympathisanten im Tessin und in Italien, bei den Vereinen und in der Presse. Die wilden Rösser aus ihrer Welt zu reissen und in Gefangenschaft zu geben, das war, als würde man einem die eigenen Träume fesseln und sie in ein Verliess werfen.
In freier Wildbahn besteht eine Herde aus mehreren Stuten und ihren Fohlen, und einem Leithengst. Wie bei den Menschen, bestimmt auch bei den Pferden immer ein weibliches Tier, wo es langgeht. Die Leitstute führt die Herde zu Tränken und zu Futter- und Rastplätzen und bestimmt den Tagesablauf. Nicht immer ist sie das grösste oder stärkste Pferd der Herde, immer jedoch das intelligenteste. Die Herde wird begleitet von einem Leithengst, der für den Schutz vor Fressfeinden und anderen Angreifern verantwortlich ist und die empfangsbereiten Stuten deckt. Er muss seine Position immer wieder aufs neue gegenüber jüngeren Hengsten verteidigen. Pferde sind Fluchttiere. Müssen sie einem Räuber entkommen, läuft die Leitstute voraus, und der Leithengst läuft hinter der Herde, wobei er zurückbleibende Tiere vorwärts treibt und sich weitmöglichst zwischen seiner Herde und dem Angreifer hält.
Das Drama
Langsam wurden jetzt die Tage wieder kürzer, der Herbst malte spektakuläre Farben auf die Berghänge.Die beiden Gruppen zogen auf getrennten Wegen durch die Tessiner Berge. Immer wieder wurden sie von den Bauern auf- und fortgescheucht.
Eines Tages, es war Anfang November, waren zwei Stuten und der Leithengst der La Bionda - Herde verschwunden. Ein Leithengst verlässt seine Stuten nie, weshalb bald klar wurde, dass etwas vorgefallen sein musste.
Über mehrere Wochen hinweg keine Spur von dem Tier. Dann, am 12. Dezember die grausige Entdeckung: Der Hengst war einen Abgrund hinuntergestürzt. Es gab Hinweise, dass er von Bauern gezielt auf den Felsvorsprung unterhalb von Colmegnone zugetrieben worden war. Die zwei Stuten hingegen waren durch die Trennung von La Bionda und nach dem Tod des Leithengstes führungslos durch die Gegend gestreift, und fanden ihre Herde nach ein paar Wochen schliesslich wieder.
La Bionda, der Heldin dieser Geschichte, fehlte nun ihr Leithengst, weshalb sie kurzerhand beide Aufgaben übernahm: Sie führte ihre Herde durch die Berge, und beschützte sie zugleich vor den Gefahren, die hier vor allem in Form von wütenden Bergbauern lauerten.
Die Rettung
Wieder fiel der Winter ein. Schnee bedeckte Berge, Wiesen und Wälder. Die beiden Herden kamen wieder hinab in die Dörfer, wieder gab es Probleme und Streit. Es war klar, dass eine Lösung gefunden werden musste.
In der Schweiz und in Italien schlossen sich jetzt Bürger und Vereinigungen zusammen, und erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten. Die Damen Erba und Marchi hatten inzwischen ein Einsehen, und schenkten die Tiere bedingungslos den Vereinen, die sich um sie kümmerten. Nun war klar, dass die Pferde frei bleiben sollten, dass sie aber vor allem jetzt im Winter geschützt und verpflegt werden mussten.
Gelder wurden gesammelt, Land wurde zur Verfügung gestellt, Freiwillige brachten Heu und reinigten die Winterkoppel, die kurzfristig bereitgestellt werden konnte. Auch wurden alle gesetzlich vorgeschriebenen tierärztlichen Untersuchungen und Impfungen vorgenommen. Ein Verein, „Associazione Cavalli del Bisbino ONLUS“ wurde gegründet, bei dem alle anderen beteiligten Vereine sowie unzählige Sympathisanten aus der Schweiz und aus Italien Mitglieder wurden und der nun der einzige Eigentümer der Pferde war.
Und endlich, in einem spektakulären, vierzehnstündigen Auftrieb, konnten Ende Mai 2010 die inzwischen zweiundzwanzig Pferde von achtzig Freiwilligen vom Monte Bisbino fast dreissig Kilometer weit über Berge und durch Täler zum Monte Generoso begleitet werden, wo sie den ganzen Sommer über in Freiheit leben konnten.
In der Zwischenzeit wurde auch eine dauerhafte Lösung für die kommenden Winter gefunden: Auf dem Pian delle Noci stellte die Gemeinde Lanzo d’Intelvi eine grosse Winterkoppel für die kommenden Jahre zur Verfügung. Es konnte genügend Geld gefunden werden, die Versorgung der Rösser mit Heu den Winter hindurch zu garantieren. Freiwillige kümmern sich um die Tiere, reinigen die Koppel, bringen Stroh und Heu aus. Und, vorläufig letzte Wendung im Rossmärchen: Die Gemeinden Mendrisio und Melano sowie die Gemeinde Breggia, zu welcher Sagno inzwischen gehört, unterstützen den Verein mit finanziellen Beiträgen, ebenso wie die Ferrovia del Monte Generoso.
Fünf Stuten haben vor kurzem ihre Fohlen zur Welt gebracht, womit die Herde jetzt auf 27 Rösser angewachsen ist. Da jedoch sowohl die Weideplätze um den Monte Generoso, als auch die Winterkoppel und die Ressourcen des Vereines begrenzt sind, wurden nun alle Hengste kastriert. Doch die Lebenserwartung dieser Pferde ist hoch – sie sollen, bei guten Bedingungen, bis zu 40 Jahre alt werden können – sodass die Herde wohl noch lange durch die Tessiner Berge streifen wird.
Im Sommer stehen die Rösser nachts zuweilen im Schutz der steil aufragenden Felsen des Monte Generoso um ihre Fohlen herum und schlafen. Und manchmal, wenn gerade der Vollmond untergeht, und ein Rauschen durch die Bäume flüstert, hebt La Bionda ihren Kopf, bläht ihre Nüstern. Auch die anderen Pferde horchen auf, und sogar die Fohlen stellen ihre Ohren nach vorne und begrüssen den aufkommenden Südwind, aus dem Gott sie einst erschaffen hat.
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in TRANSHELVETICAcavallidelbisbino.ch
montegeneroso.ch